Jeder hat dieses Foto schon einmal gesehen: „Migrant Mother“ – das Bild einer von Erschöpfung, Hunger und Sorgen gezeichneten Mutter mit ihren Kindern. Ihr Blick ist nachdenklich, ihr Gesicht vorzeitig gealtert, ihre Kinder verstecken sich hinter ihr. Ihre ganze Körperhaltung verrät dem Betrachter, dass sie nicht weiß, wie das Leben für sie und ihre Familie weitergehen soll.
Das Foto entstand im Jahr 1936, und die Frau darauf war Florence Owens Thompson. Florence wurde 1903 in einem Reservat der Cherokee im US-amerikanischen Bundesstaat Oklahoma geboren. Ihre Familie war Cherokee und lebte von der Landwirtschaft. Sie heiratete als junge Frau einen Bauern und zog einige Jahre später mit ihm und ihren drei Kindern nach Porterville in Kalifornien, um Arbeit in den dortigen Sägewerken zu finden.
Doch nach dem fatalen Börsenkrach im Jahr 1929 erlitt die Wirtschaft einen schweren Schlag und eine Zeit begann, die als „Große Depression“ in die Geschichte eingehen sollte. Die Wirtschaft brach zusammen, unzählige Menschen verloren ihre Jobs.
Auf der Suche nach Arbeit zog Florences Familie weiter nach Norden. Doch unterwegs wurde ihr Mann krank und starb mit nur 32 Jahren an Fieber. Die verwitwete Florence hatte inzwischen fünf Kinder und erwartete das sechste. Eine Weile konnte sie wieder bei ihren Eltern unterkommen, die ebenfalls auf der Suche nach Arbeit durch das Land zogen. Sie lebten in Lagern und Baracken und litten ständig unter Hunger, da das wenige Geld, das sie verdienen konnten, nicht ausreichte, um alle zu ernähren.
Eine Zeit lang lebte Florence mit einem Metzger aus Los Angeles zusammen. Da Frauen damals keinerlei Zugang zu Verhütungsmitteln und wenig Wissen über Geburtenkontrolle hatten, war sie 1935 bereits Mutter von zehn Kindern. Als der Mann sie verließ, hatte sie keine Unterkunft mehr, sie und ihre Kinder mussten oft unter Brücken schlafen.
Am 9. März 1936 waren Florence und ihre Kinder gerade in einem Lager für Erntehelfer für Erbsen in Nipomo in Kalifornien untergekommen, als plötzlich ein Auto vorfuhr. Der Wagen war neu, glänzend und in den 30er Jahren ein noch teureres Statussymbol, als er es heutzutage wäre. Eine wohlhabend gekleidete Frau stieg aus. Sie trug eine große Kamera mit sich und begann, Florence zu fotografieren, die sich mit ihren jüngsten Kindern Katherine (4), Ruby (5) und Norma (1) unter einer Zeltplane ausruhte.
Am nächsten Tag war ihr Bild in der Zeitung „San Francisco News“. Die Überschrift des zugehörigen Artikels lautete: „Zerlumpt, hungrig, pleite. Erntehelfer leben im Elend“. Unterstützt von dem ausdrucksstarken Foto verbreitete sich der Bericht über die Not der Wanderarbeiter in Windeseile in ganz Amerika. Innerhalb weniger Tage erreichten Lieferungen von Nahrungsmitteln das Lager – Florence Owens Thompson hatte davon jedoch nichts mehr, sie war auf der Suche nach Arbeit und Essen bereits weitergezogen.
Die Fotografin Dorothea Lange wurde mit Florences Foto, das sie „Migrant Mother“ nannte, weltberühmt. Das Bild wurde zum Kunstobjekt, es erschien in zahllosen Ausstellung und Bildbänden. Heute hängt ein 35 x 27 Zentimeter großer Abzug im J. Paul Getty Museum in Malibu in Kalifornien.
1960 erzählte Dorothea, wie das berühmte Bild entstand – und ihre Sicht war eine gänzlich andere als die von Florence: „Ich sah und näherte mich einer hungrigen und hoffnungslosen Mutter, wie angezogen durch einen Magneten.“ Dorothea schien den Moment stark romantisiert in Erinnerung zu haben. Kein Wunder, für sie war es der Wendepunkt ihrer Karriere gewesen. „Sie saß dort, angelehnt an das Zelt, mit ihren kauernden Kindern um sie herum, und sie schien zu wissen, dass meine Fotos ihr helfen könnten, und so half sie mir. Da war eine Art der Gleichheit in der Sache.“
Diese Gleichheit, die Dorothea im Nachhinein in die Situation hineindeutete, hatte natürlich nie existiert. Sie hatte ein künstlerisch beeindruckendes Bild von einem Menschen gemacht, der keine realistische Möglichkeit hatte, sich dem zu verweigern. Und sie hatte mit Florences Gesicht Wohlstand und Prestige erlangt, ohne ihr und ihren Kindern dafür auch nur einen Cent zu bezahlen. Bis zu ihrem Tod kannte Dorothea Lange den Namen der Frau auf dem Foto nicht – sie hatte nie versucht, ihn herauszufinden.
Ende der 70er Jahre erzählte Florence der Lokalzeitung „Modesto Bee“ schließlich, wie sie den Moment des ikonischen Fotos erlebt hatte. Sie war nicht gefragt worden, ihr Name und ihre Geschichte waren unwichtig gewesen, das Versprechen der Nichtveröffentlichung war noch am selben Tag gebrochen worden: „Das Foto machte sie reich und berühmt. Mir hat es nicht geholfen.“
Florence Owens Thompson schaffte es trotz aller widrigen Umstände, unter Hunger und Obdachlosigkeit, all ihre Kinder durchzubringen und sich schließlich durch eine weitere Heirat eine gesicherte Existenz aufzubauen. Als sie 1983 im Alter von 80 Jahren verstarb, hinterließ sie 10 Kinder, 39 Enkelkinder und 74 Urenkel.
Quelle: Wikipedia
Vorschaubild: ©Facebook/MAD Photography