Als die Deutschen im Jahr 1939 Polen überfielen, konnte Stanisława Leszczyńska nicht wissen, was die Zukunft für sie selbst und die Menschen um sie herum bringen würde. Wie so viele andere auch, hielt die 43-Jährige es nicht für möglich, welche schrecklichen Grausamkeiten die Nationalsozialisten für die Menschen geplant hatten, denen sie das Grundrecht auf Leben absprachen.
Von einem Tag auf den anderen lebte Stanisława in einem besetzten Land. Die Mutter von vier Kindern hatte zuvor ein ruhiges, zufriedenes Leben als ausgebildete Hebamme geführt. Jetzt wurde die Familie gezwungen, umzuziehen, damit die Besatzer aus ihrem Viertel der Stadt Łódź ein Ghetto für die jüdische Gemeinde einrichten konnten. Die Gemeinde war groß: Mehr als ein Drittel der Stadtbewohner musste fortan auf engstem Raum leben und Zwangsarbeit für die Nazis verrichten.
Die Zustände, unter denen die Menschen leben mussten, erfüllten Stanisława mit Schrecken und sie beschloss, zu helfen. Sie und ihre Familie begannen, von außen Nahrungsmittel und gefälschte Dokumente in das Ghetto zu schmuggeln.
Doch ihr mutiger Einsatz blieb leider nicht unentdeckt. Im Jahr 1943 wurden Stanisława und ihre drei jüngsten Kinder von der Gestapo verhaftet – ihr Mann und der älteste Sohn konnten entkommen. Sie wurde von ihren Söhnen getrennt und zusammen mit ihrer Tochter nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Sie sollte ihren Mann nie mehr wiedersehen: Er schloss sich dem polnischen Widerstand an und starb 1944 während des Warschauer Aufstands.
Als Stanisława in Auschwitz ankam, wurde sie als ausgebildete Hebamme der „Geburtsstation“ des Todeslagers zugewiesen. Eine Schwangerschaft war in Auschwitz ein entsetzliches Schicksal. Die Schwestern, die dort arbeiteten, waren verurteilte Verbrecherinnen – unter anderem Kindermörderinnen. Schwangere Frauen wurden entweder umgehend ermordet oder sie wurden gezwungen, das Kind in der Geburtsstation zur Welt zu bringen, wo das Neugeborene dann in einem Eimer ertränkt wurde – oftmals vor den Augen der Mutter.
Dass die Nazis ausgerechnet von einer Hebamme erwarteten, an diesen Grausamkeiten mitzuwirken, scheint absurd. Aber den Hebammen, die auf dieser entsetzlichen Station arbeiteten, war wegen ihrer Verbrechen die Berufserlaubnis entzogen worden, weshalb die von Bürokratie und Ordnung besessenen Mörder ihnen verboten, den Müttern bei der Entbindung zu helfen. Diese mussten sie ohne Hilfe durchstehen – bis Stanisława im Lager ankam.
Doch als sie hörte, was von ihr verlangt wurde, weigerte sie sich. Man brachte Stanisława vor den berüchtigten Arzt, der dem ganzen Lager vorstand: Josef Mengele. Er wies sie an, die Neugeborenen zu töten, doch sie weigerte sich erneut. Dennoch befahl man ihr, in der „Geburtsstation“ zu arbeiten – niemand weiß, warum man sie stattdessen nicht einfach umbrachte.
Obwohl die Krankenschwestern sie prügelten und ihr Schlimmeres androhten, begann Stanisława, sich um die schwangeren Frauen zu kümmern. Sie musste unter furchtbaren Bedingungen arbeiten: Es gab kein fließendes Wasser, keine Windeln und fast keine Nahrungsmittel. Das Dach war undicht und das ganze Gebäude mit Ungeziefer verseucht.
Sie wusste, dass die meisten Babys, denen sie auf die Welt helfen konnte, kaum Überlebenschancen hatten. Aber sie verschrieb sich mit all ihrer Kraft ihrer Aufgabe, auch weil sie wusste, dass manche der Kinder, die das Glück hatten, blaue Augen und helles Haar zu haben, an „arische“ Paare gegeben wurden, die selbst keine Kinder bekommen konnten.
Insgesamt half sie in Auschwitz über 3.000 Babys auf die Welt. Etwa die Hälfte von ihnen wurde sofort ertränkt, etwa 1.000 weitere mussten unter den grausamen Bedingungen erfrieren und verhungern. 500 Kinder wurden ihren Müttern genommen und zu Adoptiveltern gebracht. Ganze 30 der Kinder überlebten im Todeslager. Dank Stanisławas Pflege starb keines der Kinder und keine der Mütter bei der Geburt selbst.
Stanisława und all ihre Kinder überlebten die Hölle der Lager und wurden 1945 befreit. Sie nahm ihr Leben als Hebamme in Freiheit wieder auf. Erst viele Jahre später, im Jahr 1970, sah sie die Mütter wieder, deren Kinder sie hatte retten können. Die Überlebenden hatten eine Zusammenkunft in Warschau möglich gemacht, wo sie und ihre mittlerweile erwachsenen Kinder auf die Frau trafen, der sie alle ihr Leben verdankten.
Stanisława Leszczyńska starb 1974. Ihr Andenken wird in Polen in hohen Ehren gehalten und die Nachkommen der von ihr geretteten Kinder kennen noch alle ihren Namen.
Was für ein Beispiel unbeugsamer Menschlichkeit inmitten der schlimmsten Grausamkeiten. Stanisława kann jedem als Vorbild dienen, der auch heute noch entgegen aller Gleichgültigkeit und Apathie das Richtige tun will.