Als die Band Soul Asylum im Jahr 1993 ihren Song „Runaway Train“ herausbrachte, ahnte niemand, was sie damit auslösen würde. Wer sich wirklich mit dem Text des Megahits beschäftigte, der wusste, dass es hier um ein sehr ernstes Thema ging: um vermisste Kinder.
Das Musikvideo zu dem Lied zeigte eine ganze Reihe Fotos verschwundener Kinder und nannte ihre Namen. Die Hoffnung war, sie so vielleicht finden zu können.
Was wurde aus diesem Versuch, mit Musik Gutes zu tun?
Der Soul Asylum-Sänger Dave Pirner und seine Band hatten zusammen mit dem Produzenten Tony Kaye das Video gedreht. Wer es nicht (mehr) kennt, der kann hier gleich mal einen Blick darauf werfen:
Dave Pirner orientierte sich mit seiner Aktion an Milchkartons, die in den USA seit den 80er Jahren Bilder von vermissten Kindern auf den Seiten trugen und so zur Lösung vieler Fälle beitrugen. Eines der ersten und wohl bekanntesten „Milchkarton-Kinder“ ist übrigens Etan Patz, der 1979 verschwand, aber niemals gefunden wurde.
Was wurde also aus den vermissten Kindern und Jugendlichen? Von den 36 Kindern, die das Video zu „Runaway Train“ zeigt, sind tatsächlich 25 nach Hause zurückgekehrt.
Von dem Rest fehlt bis heute jede Spur. Hier sind einige ihrer Geschichten:
1. Andrea Durham: noch immer vermisst
Am 1. Februar 1990 verschwand die damals 13-Jährige spurlos aus dem Städtchen Fort Walton Beach in Florida, USA. Ursprünglich glaubten die zuständigen Behörden, dass sie weggelaufen sei, aber mittlerweile ist man sich sicher, dass sie unter anderen Umständen verschwand. Was jedoch genau geschah, ist bis heute nicht geklärt.
2. Aundria Bowman: ermordet
Mit 14 sah man Aundria Bowman zum letzten Mal in ihrem Zuhause in Hamilton, Michigan (USA). Das war am 11. März 1989. Lange Zeit wusste man nicht, was mit ihr passiert war, doch im Januar 2020 gestand Dennis Bowmann, der Mann, der sie mit fünf Monaten adoptiert hatte, den Mord an Aundria.
Im Frühjahr 2020 fand man ihre sterblichen Überreste in einem kleinen „Grab“ auf Dennis Bowmans Grundstück, der im Mai 2020 zu einer Gefängnisstrafe wegen Mordes, Kindesmissbrauchs und Verstümmelung verurteilt wurde.
3. Byron Page: noch immer vermisst
Am 29. Januar 1992 verschwand der 17-jährige Byron Page aus Los Angeles auf dem Weg zu einem Musikwarengeschäft, das er häufiger aufsuchte. Von diesem Ausflug kam er nie wieder nach Hause zurück.
Angestellte des Ladens konnten sich nicht erinnern, Byron an jenem Tag im Geschäft gesehen zu haben. Es wird vermutet, dass er nicht freiwillig weggelaufen ist, denn er hatte gerade einen Test bestanden, der ihm ein College-Stipendium sicherte, und am nächsten Tag wollte er seine Führerscheinprüfung ablegen.
Allem Anschein nach hatte er also keinen Grund, wegzulaufen, es ist jedoch nichts über sein Verschwinden bekannt.
4. Christopher Kerze: noch immer vermisst
Als der junge Christopher Kerze seiner Mutter am 20. April 1990 sagte, er habe Kopfschmerzen und könne nicht in die Schule gehen, blieb er zu Hause, während seine Mutter arbeiten ging. Als diese um 15 Uhr wieder nach Hause kam, fand sie einen Zettel von Christopher, auf dem stand: „Mom, es ist etwas Wichtiges dazwischengekommen, fühle mich schon besser. Bin um 18 Uhr zurück (außer ich verirre mich). Hab‘ dich lieb, Chris.“ Die Wörter „verirre mich“ waren zweimal unterstrichen. Christopher hatte das Familienauto mitgenommen und die Waffe der Eltern.
Am Tag nach seinem Verschwinden erhielt die Familie einen handgeschriebenen Brief per Post, der besagte, dass er (Christopher) gelogen habe und gar nicht krank gewesen sei, sondern dass er das Auto genommen habe, um „einfach irgendwo hinzufahren“ mit der Intention, sich das Leben zu nehmen.
Einen Tag später fand man das Auto der Familie ca. 300 km entfernt. Die Gegend wurde weitläufig durchkämmt, doch es fehlte jede Spur von Christopher.
5. Curtis Anthony Huntzinger: ermordet
Der damals 14-jährige Curtis Huntzinger verschwand am 19. Mai 1990 aus dem Örtchen Blue Lake in Kalifornien. Anfangs dachte man, er sei davongelaufen, doch nach ein paar Jahren wurde vermutet, dass etwas anderes passiert sein müsse: Mord.
Curtis erzählte einige Tage vor seinem Verschwinden, dass der 35-jährige Stephen Hasher, von ein Freund der Familie, ihn belästigte. Als er dies jedoch auf Drängen seiner Mutter der Polizei erzählen sollte, revidierte er seine Aussage. Vermutlich ging der Junge stattdessen direkt zu Hash und stellte ihn zur Rede, der daraufhin (laut eigener Aussage) die Nerven verloren und Curtis mit einer Hantel erschlagen habe.
Dass dies dem tatsächlichen Tathergang entspricht, ist zweifelhaft. Dennoch gestand Hash die Tat und führte die Behörden zu Curtis‘ Leiche, die in einem flachen Grab zwischen Blue Lake und Korbel an der California State Route 299 lag. Hash wurde 2009 zu elf Jahren Gefängnis verurteilt und musste umgerechnet knapp 7500 Euro Geldbuße zahlen.
6. Wilda Mae Benoit: noch immer vermisst
Zum letzten Mal sah man die 14-jährige Wilda Benoit am 23. Juli 1992 in ihrem Elternhaus in Creole, Louisiana. Auch sie galt offiziell erst als fortgelaufen, doch die Familie wollte das nicht glauben.
2003 schaltete Wildas Stiefmutter einen öffentlichen Beitrag in den sozialen Netzwerken, in dem sie schrieb: „Falls Wilda Mae das liest, würde ich sie gerne wissen lassen, dass er seit einiger Zeit trocken ist.“
Dieser Post sorgte dafür, dass viele glaubten, sie sei aus schlechten häuslichen Verhältnissen geflohen. Man nimmt an, dass sie nach Florida gegangen sein könnte, aber es gibt keine Beweise für diese Theorie.
7. Polly Klaas: ermordet
Der Fall Polly Klaas ist der wohl bekannteste aus dem „Runaway Train“-Video, denn er erlangte internationale „Berühmtheit“. Am 1. Oktober 1993 wurde die 12-jährige Polly während einer Party ihrer Mutter aus ihrem Kinderzimmer entführt. Der Entführer, Richard Allen Davis, bedrohte sie mit einem Messer und verschleppte sie.
Durch viele unglückliche Zufälle erkannte niemand Davis. Bereits 30 Minuten nach der Entführung gaben die zuständigen Behörden einen Funkspruch mit einer Beschreibung des Entführers durch. Als man Davis ca. 30 km vom Haus entfernt anhielt, war der Funkspruch zwar schon raus, lief jedoch nur auf Kanal 1. Die Polizisten, die Davis überprüften, hörten in ihrem Bezirk aber nur über Kanal 3. Davis konnte unerkannt weiterfahren.
Zwei Monate nach der Entführung fand man Polly nahe der Stelle, an der die Polizisten Davis angehalten hatten – er hatte sie stranguliert und im Gebüsch liegen lassen. 1996 verurteilte ein Gericht Davis zum Tode, das Urteil ist bislang noch nicht vollstreckt.
8. Thomas „Tommy“ Gibson: noch immer vermisst
Als Thomas Gibson verschwand, war er gerade einmal zwei Jahre alt. Zuletzt sah man ihn beim Spielen im Vorgarten seines Zuhauses in Azalea, Oregon, am 18. März 1991.
Thomas‘ Vater, Larry Gibson, war zu dem Zeitpunkt des Verschwindens joggen, hatte aber seine Handfeuerwaffe dabei, um auf streunende Katzen zu schießen, die auf seinem Grundstück herumliefen. Larry sagte später, er habe auf eine Katze in Thomas‘ Nähe geschossen, sie jedoch verfehlt. Als er dann 45 Minuten später vom Joggen zurückkehrte, erfuhr er, dass Thomas verschwunden sei.
Weiterhin habe seine 4-jährige Tochter gesehen, wie ein unidentifiziertes Pärchen in die Einfahrt gefahren sei und Thomas entführt habe. Als daraufhin eine große Suchaktion gestartet wurde, sagte Larry den Helfern kurze Zeit später jedoch, dass sie aufhören sollten zu suchen, da es zu schneien angefangen hatte.
Die Ermittler glaubten, dass Larry die besagte Katze getroffen habe, da sie ein totes Tier in der Nähe von Thomas‘ letztem Aufenthaltsort gefunden hatten, und dass die Kugel durch diese hindurchgegangen sei und Thomas getroffen habe. Larry habe das nach seiner Laufrunde bemerkt und den Jungen begraben.
Diese Anschuldigung stritt Larry jedoch vehement ab. Als sich seine Frau 1994 von ihm trennte, änderten sie und ihre Tochter die ursprüngliche Aussage: Das Mädchen sagte, sie habe gesehen, wie ihr Vater Thomas geschlagen habe, ihn dann in eine Plastiktüte gepackt habe und davongefahren sei.
1995 wurde Larry wegen Totschlags angeklagt, obwohl er bis heute abstreitet, an dem Vorfall beteiligt gewesen zu sein, weshalb man ihn 1996 wieder freiließ. Thomas‘ Leiche wurde nie gefunden.
9. Ginger Sue Hudson und Elizabeth Wiles: zurückgekehrt
Glücklicherweise gibt es auch Geschichten, die dank des „Runaway Train“-Videos ein schönes Ende gefunden haben, wie die von Ginger Sue Hudson und Elizabeth Wiles (siehe Foto rechts).
Elizabeth war mit 16 Jahren davongelaufen, um bei ihrem Freund zu leben. Dort sah sie das Musikvideo von Soul Asylum auf MTV und entschied sich letztendlich dazu, ihre Mutter wieder zu kontaktieren und die familiären Probleme aus der Welt zu schaffen.
Einige Wochen später flog sie wieder nach Hause. Elizabeth war die Erste, die wieder nach Hause zurückkehrte, nachdem das Musikvideo veröffentlicht worden war.
Auch Ginger Sue Hudson, die 1992 verschwand, konnte man einige Monate nach erstmaliger Ausstrahlung des Videos finden – lebendig.
10. Weitere Fälle:
Es gibt jedoch einige Fälle, über die man kaum Informationen findet, wie den von Heather Lee Yagle, Darlene Michelle Hungerford, Michelle Ann Farley und Emily Tamara Pois (siehe Foto). Was man weiß oder vermutet, ist:
- Heather Lee Yagle: Mit 42 Jahren wurde sie angeblich verhaftet, es ist jedoch unklar, ob es sich wirklich um Heather handelt.
- Michelle Ann Farley: Angeblich handelt es sich bei Michelle um das Mädchen, das einmal zum Konzert von Soul Asylum gegangen sei und ihnen scherzhaft gesagt habe, dass sie „ihr Leben ruiniert hätten“, da sie aufgrund des Videos gefunden und zurück in schlechte häusliche Verhältnisse geschickt worden sei.
- Emily Tamara Pois (Foto): Gerüchten zufolge ist sie am Leben, es ist jedoch nichts Weiteres über sie bekannt.
Im Jahr 1991 verschwanden zudem drei deutsche Rucksack-Touristen in Australien, die in der australischen Version erwähnt wurden. Dabei handelte es sich um die 21-jährige Simone Schmidl, die am 20. Januar 1991 verschwand, als sie sich von Sydney auf den Weg nach Melbourne machte, und um das junge Pärchen Gabor Neugebauer (21) und Anja Habschied (20), die zuletzt am 26. Dezember 1991 gesehen wurden, als sie das Kings Cross Hotel verließen, um nach Mildura aufzubrechen. Hier sind die beiden zu sehen:
Aufgrund ihrer grausamen Todesumstände wollten die Hinterbliebenen jedoch, dass die drei nicht in dem australischen Video auftauchten: Sie waren dem Serienmörder Ivan Milat zum Opfer gefallen, der zwischen 1989 und 1994 sieben Menschen umbrachte. Aus Rücksichtnahme wurde die Version mit ihnen wieder gelöscht.
Auch wenn nicht alle Kinder und Jugendlichen mithilfe der Videos gefunden werden konnten, so haben diese doch viele Familien wieder zusammenführen können oder ihnen zumindest Klarheit verschafft.
Soul Asylum gelang es mit „Runaway Train“, Menschen auf eine ganz andere Art (wieder) zu verbinden und die Vermissten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Vielleicht gab die Band ja den Familien auch ein kleines bisschen Kraft, die ihre vermissten Kinder für immer in Erinnerung behalten werden.
Quelle: truecrimesociety
Vorschaubilder: ©YouTube/Soul Asylum